Sicherlich kennen einige oder wahrscheinlich sogar viele das Phänomen, das ich in den vielen Jahren, in denen ich im B2B-Vertrieb gearbeitet habe, sehr oft erlebt habe. Läuft das Geschäft wie geschmiert, übertrifft man das am Jahresanfang noch als völlig unrealistisch eingeschätzte Jahresziel oder man hat in drei aufeinanderfolgenden Jahren exorbitante Wachstumsraten erzielt, dann hat das ganze Unternehmen, alle Abteilungen, einen fantastischen Job gemacht. Tritt das Gegenteil ein, gibt es primär erst einmal einen Schuldigen: den Vertrieb. Dann ist es nicht unüblich, dass sogar einer oder mehrere Köpfe rollen müssen – sozusagen das vielzitierte Bauernopfer. Sicherlich hat auch der Vertrieb seinen Anteil daran, wenn es mal nicht so läuft wie geplant. Aber als jemand, der die allermeiste Zeit seiner Karriere im internationalen Vertrieb verbracht hat, ist mir diese Logik zu einfach. Erst recht dann, wenn auch noch externe Ereignisse dazu beitragen, dass man die anvisierten Ziele nicht erreichen kann. Das Jahr 2020 hat das mehr als deutlich aufgezeigt.
Alle sind verantwortlich
Wenn aus der Produktentwicklung keine Innovationen kommen oder gar fehlerhafte Produkte zum Verkauf freigegeben werden, tut sich jeder Vertrieb schwer, neue Kunden zu finden. Wenn die Marketingabteilung keine wertvollen Sales-Leads kreiert, laufen sich die Vertriebler die Füße wund beziehungsweise reden sich den Mund fusselig, ohne wirklich auch nur annähernd einen Verkaufsabschluss am Horizont zu sehen. Viele kennen wahrscheinlich die Situation, wenn man die „absoluten Hot Leads“ zugespielt bekommt und schon beim ersten Kontakt das Gefühl bekommt, dass man die falsche Nummer gewählt oder die Email-Adresse verwechselt hat. Aber auch wenn ein Unternehmen einen schlechten Customer Service oder einen inkompetenten technischen Support hat, wird es für den Vertrieb zumindest schwer, Folgegeschäfte zu machen. Und nebenbei spricht sich so etwas heute dank unzähliger Bewertungsportale in Windeseile herum, so dass es dann recht schnell auch schwer wird, neue Kunden zu finden. Ich könnte jetzt jede Abteilung im Unternehmen durchgehen und würde bei jeder einige Beispiele finden, wie auch diese den Geschäftserfolg verhindern kann, um es mal bewusst etwas überzogen auszudrücken.
Die Zahnräder des Unternehmens
Am Ende ist jedes Unternehmen wie eine mechanische Uhr in der jedes Bauteil funktionieren muss, damit die Uhr tut, was sie soll, nämlich exakt laufen. Ist ein Zahnrad schlecht geölt, läuft das Uhrwerk schwerer und die Uhr geht nach. Fallt ein Teil aus, bleibt die Uhr stehen. Und wenn man die Uhr nicht hin und wieder mal aufzieht, bleibt sie auch stehen. Der Vertrieb ist primär die Abteilung des Unternehmens, die nach außen am meisten sichtbar ist. Um beim Vergleich mit der Uhr zu bleiben, repräsentiert der Vertrieb (und in vielen Teilen natürlich auch das Marketing) die Zeiger. Natürlich funktioniert die Uhr auch ohne Zeiger, nur bekomme ich dann von außen kein Feedback, wie gut die Uhr läuft oder ob sie überhaupt noch läuft. Umgekehrt bewegt sich kein Zeiger, wenn die Maschinerie darunter sich nicht bewegt.
„Gap Selling“
Gerade im B2B-Bereich ist oder zumindest sollte der Vertrieb viel mehr als nur der oder die lästige Verkäufer*in sein, der oder die den Kunden nervt, bis er hoffentlich endlich kauft. Ein guter B2B-Vertrieb wird vom Kunden als Berater wahrgenommen, der ihm hilft das „Gap“ zwischen Ist-Zustand und Ziel zu schließen. Der Autor Keenan beschreibt das sehr gut in seinem Buch „Gap Selling“. Aber dies ist nicht nur wichtig für den Kunden. Beim Gap Selling erfährt der Vertrieb sehr viel über die Bedürfnisse des Kunden und erhält damit unbezahlbare Informationen für die eigene Strategie- und Produktentwicklung. Dies wird in vielen Unternehmen heute noch viel zu wenig genutzt, denn der Vertrieb soll sich schließlich ums Verkaufen und nicht um die Strategie oder die Produkt-Roadmap kümmern. Wie oft werden neue Produkte oder Produkteigenschaften auf den Markt gebracht, weil irgendein kreativer Entwickler glaubt, dass dies der absolute Hit auf dem Markt wird? Ich denke, jedem fallen jetzt ein paar Beispiele ein für Produkte ein, die vielleicht einer kreativen Idee entsprangen und auch technologisch sehr interessant waren, aber die eben keiner kaufen wollte.
Die Rolle des Produkt-Management
Nur wenn Produktentwicklung und Vertrieb eng kooperieren, hat man eine gute Chance, wirklich an den richtigen Produkten und Lösungen zu arbeiten. Natürlich muss auch der Vertrieb realistisch bleiben bezüglich dem, was überhaupt machbar ist. Man wird nicht jeden Kundenwunsch erfüllen können, und selbst wenn man es kann, bleibt die Frage, wie viele Kunden am Ende wirklich an genau dieser Lösung interessiert sind. Hier ist dann das Produktmanagement als Vermittler gefragt, um technische Machbarkeit und potentiellen Markterfolg abzuwägen. Es gibt immer noch viele kleinere und selbst mittelständische Unternehmen, die das Thema Produktmanagement sehr stiefmütterlich behandeln oder sogar ignorieren. Da kann es dann schon mal passieren, dass der Vertrieb “agil” wird und eine Lösung anbietet, die der Markt offensichtlich braucht, die aber noch nicht wirklich verkaufsreif ist. Droht der Kunde dann plötzlich mit einer Bestellung, gerät die Produktentwicklung unter Druck, was in der Regel zu heftigen Turbulenzen zwischen den Abteilungen führt. Nicht selten entsteht aber genau daraus etwas ganz Großes – denn B2B-Vertrieb ist eben mehr als nur Verkaufen.