Das Ende des goldenen Zeitalters

In der Nacht zum 24. Februar 2022 greift Wladimir Putin im Namen Russlands die Ukraine an. Ich sage bewusst, dass Putin und nicht Russland den Angriff verantwortet, denn ich habe lange Jahre mit russischen Kollegen zusammengearbeitet und habe immer deren Professionalität und Gastfreundschaft bewundert und genossen. Mehr noch hat mich deren Wille beeindruckt, ein demokratisches und freies Russland zu schaffen, das in Frieden mit seinen Nachbarn lebt. Mein Großvater ist im zweiten Weltkrieg auf dem Territorium der Ukraine gefallen, nur wenige Tage, nachdem man ihn an die Front geschickt hat. Achtzig Jahre später sterben wieder Menschen in der Ukraine wegen eines wirren Diktators, der diesmal aus Russland kommt. Geht das „goldene Zeitalter“ zu Ende?

Die goldenen Jahre

Durch den Krieg in der Ukraine, der sicherlich das größte Risiko für den Frieden in Europa seit 1945 darstellt, wurde mir wieder einmal bewusst, dass meine Generation, die sogenannten Babyboomer, das goldene Zeitalter erlebt hat. Im Jahr 1964 wurden knapp 1,36 Millionen Kinder in Deutschland geboren, die höchste Zahl seit Ende des zweiten Weltkrieges bis heute und wahrscheinlich noch für sehr lange Zeit. Vielleicht lag es an der positiven Grundstimmung der Generation meiner Eltern, die im und nach dem Krieg aufgewachsen ist. Man steuerte zwar zielstrebig auf den kalten Krieg zu und Deutschland war geteilt, aber in Westdeutschland ging es wirtschaftlich bergauf, die Leute hatten Arbeit und konnten sich wieder etwas leisten. Natürlich gab es immer mal wieder Rückschläge wie die Ölkrise, ein paar Crashs an der Börse oder Ähnliches. Es gab auch immer wieder Kriege, aber die waren weit weg und man hat sie mit kurzem Bedauern in den Nachrichten wahrgenommen, um dann wieder zur Tagesordnung überzugehen.

Ein Tag ändert alles

Doch am 24. Februar 2022 änderte sich alles. Der Krieg findet vor unserer Haustür statt und es gibt zum ersten Mal ernsthafte Bedenken, dass dies nicht bei einer Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine bleiben könnte. Die Menschen erkennen die Parallelen in der Geschichte, denn wieder einmal glaubt jemand, er müsse seine Großmachtfantasien auf Kosten des Friedens in Europa ausleben. Man macht sich unweigerlich Gedanken darüber, dass man ganz schnell auch in die Situation wie die Menschen in der Ukraine kommen kann, die die Nächte in Bunkern und U-Bahnhöfen verbringen oder alles zurücklassen und nach Westen flüchten. Szenen, die meine Generation und die folgenden eigentlich nur aus dem Geschichtsunterricht oder aus anderen Regionen der Welt kennen, weil wir das Glück hatten, das goldene Zeitalter zu erleben und darin aufzuwachsen.

Es ging immer nur bergauf

Die letzten sechzig Jahre in Deutschland waren von eine Ära ohne Krieg, Vertreibung, Armut oder Ähnlichem geprägt. Jeder hatte die Möglichkeit eine Ausbildung zu machen, eine berufliche Karriere zu starten und die Welt oder zumindest einen Teil davon kennenzulernen. Ich bin in den 1970er Jahren aufgewachsen, als Deutschland mit Legenden wie Beckenbauer und Müller Fußballweltmeister wurde und die noch bis heute größten Rockbands der Welt den Durchbruch schafften. Dann kamen die 1980er Jahre, die selbst heute viele Jugendliche wieder aufleben lassen, obwohl schon deren Eltern sie eigentlich gar nicht bewusst erlebt haben. Ich habe den Fall der Berliner Mauer erlebt, an den die meisten in meiner Generation eigentlich nie wirklich geglaubt haben und die symbolisch für den kalten Krieg und die Trennung von Ost und West stand. Dann die revolutionären Entwicklungen in der Informationstechnologie in den 1990er Jahren, die ich selbst sogar ein wenig mitgestalten durfte. Auch die Jahre nach der Jahrtausendwende waren weiterhin gute Jahre für uns in Deutschland, aber rückblickend habe ich heute den Eindruck, dass da schon ein paar Dinge in die falsche Richtung liefen. Auch persönlich habe ich zum ersten Mal spüren müssen, dass nicht immer alles geradeaus in die richtige Richtung läuft. Doch das soll hier nicht das Thema sein.

„Die Welt ist verrückt geworden“

Wenn man auf die letzten Jahre zurückblickt, dann ist das meiste von der positiven Stimmung nach der Wende in 1989 auf der Strecke geblieben. Der Nationalismus ist in vielen Ländern wieder auf dem Vormarsch, die europäische Union wird in Frage gestellt und demokratisch gewählte Regierungen sind im Allgemeinen auf der Welt mittlerweile eher eine Seltenheit. Der Klimawandel ist überall sichtbar, auch wenn es immer noch einige gibt, die das Gegenteil behaupten, und seit Ende 2019 kämpfen wir mit einer der größten Pandemien, die sicher nicht die letzte bleiben wird. In den letzten Jahren höre ich immer wieder den Satz „Die Welt ist verrückt geworden“. Aber wer ist den die Welt? Die Welt sind wir alle. Sicherlich kann ich als Einzelner nicht den Ausbruch eines Virus verhindern oder eine russische Armee stoppen. Mit Aussagen dieser Art entschuldigt man gerne sein eigenes Verhalten. Aber wenn jeder so denkt, passiert gar nichts. Auch wenn ich jetzt ein polarisierendes Thema anspreche, aber warum halten viele Menschen sich nicht an die Regeln, um das Ausbreiten des Virus zu verhindern und verbreiten stattdessen die haarsträubendsten Verschwörungstheorien? Jeder will den Ausstieg aus der Atomenergie und der Kohle und gerade jetzt wird uns wieder bewusst, wie abhängig wir vom Öl und Gas aus Staaten wie Russland sind. Aber dann will keiner das Windrad oder die Überlandleitung in Sichtweite und wenn der größte Elektrofahrzeughersteller in Deutschland investiert, werden ihm nur Steine in den Weg gelegt. Ich weiß, dass auch das polarisiert, aber nichts kommt umsonst. Entweder wir entscheiden uns für einen anderen Weg oder „die Welt bleibt verrückt“.

Es liegt an uns

Das goldene Zeitalter, so wie meine Generation es kennt, ist vorbei. Es liegt jetzt an uns, ob wir ein neues einleiten oder vieles den berühmten Bach hinuntergeht. Jeder kann seinen Beitrag leisten. Sei es, um eine Pandemie in den Griff zu bekommen oder dem Klimawandel zumindest entgegenzuwirken. Als Einzelner einen Diktator direkt daran zu hindern, ein anderes Land anzugreifen, ist sicherlich unrealistisch. Aber auch hier kann jeder beitragen, indem man beispielsweise nicht gleich das ganze Volk verurteilt oder auch Regierungen und Präsidenten im eigenen Land wählt, die nicht noch Öl ins Feuer gießen. Das heißt auch, dass es an Ländern wie Deutschland liegt, nicht die extremen Ränder noch stärker werden zu lassen, sondern das langfristig zu erhalten, was wir und die Generation vor uns an Demokratie und Freiheit erarbeitet haben. Auch um Regierungen in anderen Ländern, die ständig das Gegenteil behaupten, zu beweisen, dass Demokratie funktioniert. Deutschland und vor allem die ganze Europäische Union müssen hier noch viel enger zusammenrücken. Und auch nicht erst dann, wenn es um uns herum schon lichterloh brennt.        

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen