Ethische Grundsätze in Zeiten von COVID-19

Extreme Situationen erfordern manchmal extreme Handlungen und führen oft auch zu extremem Verhalten. Dies haben nicht nur zwei Weltkriege bewiesen, sondern auch zahlreiche andere Ereignisse und Vorfälle auf der ganzen Welt jeden Tag. Sehr oft werden dabei ethische Grundsätze einfach über Bord geworfen. Covid-19 ist zwar nicht mit Ereignissen wie dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar, aber auch Covid-19 ist eine Extremsituation. Das beweisen nicht zuletzt die jüngsten Äußerungen verschiedener Führungspersonen aus Politik und Wirtschaft. Keine Sorge, ich werde meine Zeit nicht damit verschwenden, meine Meinung über Personen zu äußern, die beispielsweise Injektionen von Desinfektionsmitteln zur Abtötung des Virus empfehlen.

Eine Aussage löst eine Grundsatzdebatte aus

Vor einigen Tagen las ich ein Zitat von Boris Palmer, dem Oberbürgermeister von Tübingen, einer Stadt mit weniger als 100.000 Einwohnern in der Nähe von Stuttgart im Südwesten Deutschlands. Herr Palmer ist vielleicht nicht der beliebteste Bürgermeister in Deutschland, aber definitiv einer der berühmtesten. Viele Deutsche kennen wahrscheinlich nicht die Namen des Regierenden Bürgermeisters von Berlin oder des Oberbürgermeisters von München, aber sie wissen, wer der Oberbürgermeister von Tübingen ist. Das liegt nicht unbedingt daran, dass Herr Palmer eine so hervorragende Arbeit leistet. Vielleicht tut er dies sogar, schließlich ist er schon seit 2007 im Amt. Aber er ist noch viel bekannter für seine provokanten Äußerungen, die er regelmäßig mit der Welt teilt. Diese Äußerungen machen es manchmal sogar schwer zu glauben, dass er Parteimitglied der Grünen ist. Jetzt hat er mit der folgenden Aussage noch einmal die berühmte Schippe draufgelegt:

„Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“. 

Man sollte diesen Satz einfach einmal eine Weile auf sich wirken lassen. Boris Palmer sagte das im Frühstücksfernsehen im Zusammenhang mit der Forderung nach einer Lockerung der Beschränkungen aufgrund der Corona-Krise. Er forderte dabei auch, dass es unterschiedliche Sicherheitsvorkehrungen für Junge und Ältere geben müsse. Und er fügte hinzu, dass der Armutsschock, der aus der weltweiten Zerstörung der Wirtschaft entstehe, nach Einschätzung der Vereinten Nationen hingegen Millionen Kinder ums Leben bringe. Objektiv gesehen hat er wahrscheinlich sogar recht, aber es fällt mir persönlich schwer, objektiv zu bleiben, wenn es um Leben und Tod geht.

Jeder hat Eltern oder Großeltern

Meine Eltern sind 81 und 82 Jahre alt. Was halten sie von solchen Aussagen? Ich kann es nicht sagen, da ich sie nicht danach fragen wollte. Ich weiß nicht, ob die Eltern von Herrn Palmer noch leben, aber ich hoffe es. Was denken sie über das, was ihr Sohn gesagt hat? Die Statistik sagt uns ganz klar, dass ältere Menschen ein weit höheres Risiko tragen, an Covid-19 zu sterben. Jüngere Menschen sollten sich also keine Sorgen machen? Auch die haben Eltern oder Großeltern. Und wenn sie keine Eltern oder Großeltern mehr haben, kennen sie mit Sicherheit Menschen in dieser Altersgruppe. Vielleicht einen Nachbarn, den Großvater eines Schulkameraden oder die Mutter des besten Freundes. Würden sie sich gemütlich mit diesen zusammensetzen und Boris Palmer zitieren?

Entscheidungen über Leben und Tod

In Italien mussten Ärzte aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit von Beatmungsgeräten entscheiden, wen sie retten und wen sie sterben lassen. Wie wir wissen, entschieden sie sehr oft oder wahrscheinlich sogar immer gegen die älteren Menschen. Ich habe ein Interview mit einer italienischen Ärztin gelesen und konnte förmlich fühlen, was das mit ihr gemacht und wie es höchstwahrscheinlich ihr Leben und ihre Persönlichkeit für immer verändert hat. Diese Ärztin hätte unter normalen Umständen mit Sicherheit alles getan, um das Leben eines 85-jährigen Menschen zu retten, auch wenn dieser statistisch gesehen nur noch wenige Jahre oder sogar nur noch Monate zu leben hat. Ich habe ebenso über die Geschichte einer 93-jährigen Frau in Spanien gelesen, die gerettet wurde und unter dem Beifall der Ärzte und des Pflegepersonals aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Wie würde diese Frau sich fühlen, wenn sie die Aussage von Herrn Palmer liest?

Eine ethische Diskussion unabhängig von Covid-19

Vor Covid-19 und natürlich heute genauso gibt es Tausende von Menschen, die gegen andere schwere Krankheiten wie Krebs um ihr Leben kämpfen. Hier tun Ärzte und medizinisches Personal in den Krankenhäusern in der Regel alles, um das Leben dieser Patienten zu retten, unabhängig davon, ob der Patient 18 oder 80 Jahre alt ist. Zunächst einmal weiß niemand von uns, ganz unabhängig vom Alter, wie viele Jahre oder Monate wir noch haben. Wichtiger noch, wir sollten uns nicht anmaßen zu entscheiden, ob zwei weitere Lebensjahre weniger wert sind als zwanzig. Würde Herr Palmer seine Aussage nach Covid-19 wiederholen?

Bleiben Sie gesund!

PS: Am 1. Mai veröffentlichte Boris Palmer eine Erklärung, in der er sich entschuldigt, dass er „diesen Satz nicht so hätte sagen dürfen, da er viele Menschen verletzt oder verängstigt hat“. Dem stimme ich zu. Und er fügte hinzu: „Das darf gerade in einer so kritischen Zeit wie der unseren nicht passieren“. Das sollte niemals passieren.

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