Ich bin sicher, fast jeder hat diese Frage schon einmal gehört. In einem Vorstellungs-Interview, während einem jährlichen Beurteilungsgespräch oder einfach in einer privaten Unterhaltung mit einem Freund oder einer Freundin: „Wo siehst Du Dich in 5 Jahren?“. Zumindest während der letzten zwanzig Jahren hatte ich immer irgendwie ein Problem mit dieser Frage und noch viel mehr mit einer guten Antwort. Kürzlich habe ich folgenden Beitrag auf LinkedIn gelesen:
Rückblickend auf das Jahr 2015 hatte niemand die richtige Antwort auf die Frage „Wo siehst Du Dich in 5 Jahren?“
Ich würde das Wort „niemand“ hier vielleicht nicht unterschreiben, weil mehrere Wissenschaftler das Szenario einer Pandemie bereits genauso vorhersagten, wie wir es jetzt mit Covid-19 erleben. Auch Bill Gates hat schon vor genau fünf Jahren über etwas Ähnliches gesprochen. Jetzt wird er dafür sogar von einigen fragwürdigen Verschwörungstheoretikern beschuldigt, der Urheber der Krise zu sein. Aber im Allgemeinen beschreibt der oben erwähnte LinkedIn-Beitrag ziemlich gut, warum ich ein Problem mit der Frage in der Überschrift habe. Sicherlich haben andere unterschiedliche Erfahrungen gemacht, auch weil sie möglicherweise fokussierter und entschlossener sind als ich. Sie sind vielleicht heute dort, wo sie sich selbst vor fünf oder sogar mehr Jahren gesehen haben. Dafür meinen ehrlichen Respekt!
Pläne ändern sich schnell
Als Teenager habe ich Pläne für zwanzig Jahre gemacht im Hinblick auf das, was ich gerne erreichen möchte. Das ist wahrscheinlich ziemlich normal, wenn man noch alles vor sich, aber auf der anderen Seite wenig bis gar keine wirkliche Lebenserfahrung hat. Ehrlich gesagt haben sich meine Pläne schon nach dem Studium fast jedes Jahr oft grundlegend geändert. Zuerst entschied die Bundeswehr, dass sie mich unbedingt noch fünfzehn Monate lang brauchen, bevor ich meine erste Arbeitsstelle antreten darf. Dann ging mein erster Arbeitgeber nach einem Jahr in Konkurs, was mich dazu veranlasste, meine Karriere gleich wieder in eine andere Richtung zu lenken. Die „Mauer“ fiel, Europa öffnete sich nach Osten. Dies eröffnete neue Möglichkeiten und ich befand mich plötzlich auch auf einem neuen Weg, den ich mir wenige Monate zuvor noch nicht hätte vorstellen können, geschweige denn fünf Jahre zuvor. Nicht zuletzt gab es auch auf privater Seite immer wieder Veränderungen, gute und schlechte, die mich veranlassten, meine Pläne teilweise grundlegend zu ändern.
Langfristiges Planen hat ausgedient
Vielleicht war das Leben vor fünfzig oder sechzig Jahren besser planbar. Allerdings habe ich das Gefühl, dass es zumindest in den letzten zwanzig Jahren ziemlich unmöglich war, etwas mittel- oder gar langfristig vorherzusagen. Vielleicht hat es mit der technologischen Entwicklung zu tun, die noch nie in einem solch atemberaubenden Tempo verlief wie seit den 1990er Jahren. Wahrscheinlich findet auch ein allgemeiner mentaler und gesellschaftlicher Wandel statt. Früher sorgten sich junge Menschen, die ihre erste Arbeitsstelle antraten, schon um ihre Rente und schlossen eilig Verträge für eine Rentenzusatzversicherung ab. Heute habe ich das Gefühl, dass viele junge Menschen oft überhaupt noch nicht wissen, was sie machen sollen, wenn sie die Schule abgeschlossen haben. Auch um das herauszufinden, planen sie lieber erst einmal eine mehrmonatige Rucksackreise durch Südamerika. Fragen Sie die mal, wo sie sich in fünf Jahren sehen.
Auf Sicht fahren
In diesen Tagen der Corona-Krise höre ich sehr oft, dass wir „auf Sicht fahren müssen“. Für mich selbst kann ich behaupten, dass ich schon seit vielen Jahren auf Sicht fahre. Aber „auf Sicht“ ist ein sehr weiter Begriff. Manchmal, genau wie in dieser Krise, ist es sehr neblig und man sieht nur wenige Meter weit. Es ist wichtig, dass man sich langsam und vorsichtig vorwärtsbewegt und darauf vorbereitet ist, sehr schnell den Kurs zu ändern, um sich der aktuellen Situation anzupassen oder Hindernissen auszuweichen. Dann wieder ist das Wetter sonnig und man kann kilometerweit vorausschauen. Man ist in der Lage vorauszuplanen. Straßensperren oder Eisberge sind früh genug sichtbar, um zu entscheiden, wie man sie umfahren und wieder auf Kurs gehen kann. Aber man wird nie über den Horizont hinausschauen können. Auf dem Meer kann man mithilfe der Sterne die richtige Richtung bestimmen, aber die Sterne geben keine Auskunft darüber, wem oder was man auf dem Weg begegnen wird. Die Sterne können Wegweiser sein, aber man wird sie nie erreichen.
Den richtigen Mittelweg finden
Ich habe in den Jahren, in denen ich in Brasilien gelebt habe, auch in dieser Hinsicht etwas gelernt. Die meisten Brasilianer fahren immer auf sehr kurze Sicht, um bei diesem Bild zu bleiben, egal ob das Wetter gut oder schlecht ist. Das hängt nicht unbedingt immer von ihrer persönlichen finanziellen Situation ab, um hier gleich Vorurteilen vorzubeugen. Ich habe Leute kennengelernt, die nicht wussten, wie sie am nächsten Tag ihre Rechnungen bezahlen sollen, aber trotzdem gefeiert haben, als wäre es ihre letzte Party. Frei nach dem Motto „morgen ist ein anderer Tag und ich werde es schon irgendwie hinkriegen“. Ich persönlich versuche meinen Weg irgendwo zwischen dem brasilianischen Ansatz und dem Fünfjahresplan zu finden. Das hilft mir Enttäuschungen zu vermeiden und auf der anderen Seite lässt es mir die Freiheit, neue Chancen zu ergreifen, wenn sie sich unerwartet bieten sollten.
Wir alle sollten die gegenwärtige Krise nutzen, um einige Kurskorrekturen vorzunehmen und noch viel mehr die sich daraus ergebenden Chancen zu ergreifen. Dafür wünsche ich uns allen viel Glück!