Zwischen 1990 und 1998 durfte ich während meiner Anstellung bei der Intel Corporation unter Andy Grove als CEO arbeiten. Andy war mit Sicherheit kein einfacher Mensch und vor allem sehr fordernd. Aber sind das nicht alle erfolgreichen Firmenlenker, die ihre Unternehmen wirklich kontinuierlich nach vorne gebracht haben? Eine seiner Thesen, die mir nicht nur in Erinnerung geblieben ist, sondern auch mein berufliches Handeln bis heute stark beeinflusst hat, ist die des „Strategic Inflection Point“, der strategische Wendepunkt. Andy hat das ausführlich in seinem Buch „Only the Paranoid Survive“ beschrieben. Jetzt kann man sich natürlich fragen, welche Bedeutung das alles heute noch hat, denn dieses Buch ist fast 25 Jahre alt. Heute werden Unternehmen anders geführt, es gibt neue Erkenntnisse und Theorien. Dem will ich allerdings entgegenhalten, dass ich in all meinen beruflichen Stationen seit meinem Studium bis zum heutigen Tag immer wieder diesem strategischen Wendepunkt begegnet bin, mit all seinen Auswirkungen, im positiven wie im negativen Sinn.
Was ist ein strategischer Wendepunkt?
Es gibt unzählige Definitionen und Abhandlungen bezüglich des strategischen Wendepunkts. Geben Sie einfach „Strategic Inflection Point“ bei Google ein und Sie können sich die nächsten Monate ausschließlich mit diesem Thema beschäftigen. Doch damit Sie sich das ersparen können, hier eine Definition, die Andy Grove selbst einmal in einer Rede im August 1998 wie folgt beschrieben hat:
„Ein Unternehmen kommt an einen strategischen Wendepunkt, wenn sich das Wettbewerbsumfeld grundlegend verändert. Diese Veränderung kann in der Einführung neuer Technologien begründet sein, oder durch eine wesentliche Änderung im regulatorischen Umfeld hervorgerufen werden. Es kann sich aber auch einfach nur das Kundenverhalten verändert haben. All diese Veränderungen erfordern letztendlich eine grundlegende Änderung der Geschäftsstrategie. Ein strategischer Wendepunkt ist also der Punkt, an dem sich die Geschäftsstrategie grundlegend ändert.“
Ich tausche hier noch das letzte Wort von „ändert“ in „ändern muss“. Denn wenn das Unternehmen nichts unternimmt, hat das meist weitreichende Folgen, die nicht selten am Ende mit dem Verschwinden des Unternehmens vom Markt verbunden sind („Catastrophic Decline“). Wenn das Unternehmen allerdings alles richtig macht, wird es im Idealfall wieder eine Wachstumskurve sehen, so wie vor dem strategischen Wendepunkt.
Das Prinzip der S-Kurven
Dieses Prinzip der sogenannten S-Kurven wird seit vielen Jahren im Innovationsmanagement verwendet und ist Grundlage von vielen theoretischen Abhandlungen im Bereich Unternehmensstrategie. Theorie ist die eine Seite, die Praxis sehr oft die andere. Aber in diesem Fall stimmen aus meiner Sicht Theorie und Praxis sehr gut überein. Es gibt Meinungen, dass man als Unternehmen auch ohne signifikantes Wachstum und ohne Änderungen oder Anpassungen der Geschäftsstrategie langfristig am Markt bestehen kann. Ich selbst glaube daran nicht, denn ich habe in meiner Karriere bei verschiedenen Unternehmen und auch als Selbstständiger alle Phasen dieser Kurve in der Praxis kennengelernt. Mit all ihren positiven und leider auch negativen Auswirkungen. Und bei keinem dieser Unternehmen gab es auch nur mittelfristig eine horizontal verlaufende Kurve. Hier muss ich fairerweise aber dazu sagen, dass ich das in erster Linie auf die IT-Industrie beziehe. Es gibt bestimmt in anderen, weniger innovationsgetriebenen Branchen viele Unternehmen, die ohne große Strategiewechsel längerfristig ohne signifikantes Wachstum gut überleben können. Aber wenn ich länger darüber nachdenke, sind in anderen Branchen vielleicht einfach nur die Zyklen länger. Ein gutes Beispiel dafür ist in diesen Tagen die deutsche Autoindustrie.
Gute und schlechte Beispiele
Gerade in der IT-Industrie gibt es unzählige Beispiele, die die Theorie des strategischen Wendepunkts teilweise in erschreckender Weise bestätigen. Eines der bekanntesten Beispiele ist wohl Nokia. Als man dort noch das Rekordjahr 2007 als Marktführer für Mobiltelefone feierte, läutete Apple im gleichen Jahr schon den Siegeszug des Smartphones mit der Einführung des ersten iPhones ein. Und dies wiederum war der Anfang vom Ende für Nokia als Platzhirsch auf dem Mobiltelefonmarkt. Ich habe wie viele andere ein Nokia-Modell nach dem anderen benutzt und es war unvorstellbar, dass sich schon nach relativ kurzer Zeit keiner mehr an Nokia erinnern, geschweige denn die Marke vermissen sollte. Und die jüngere Generation sowieso nicht. Hier war es eine neue revolutionäre Technologie, die das Marktumfeld und dann auch das Kundenverhalten komplett verändert hat. Apple hat es generell in seiner Geschichte (fast) immer hervorragend verstanden, den strategischen Wendepunkt zu antizipieren und dabei oft ganz neue Märkte kreiert. Anstatt sich mit dem Wettbewerb in einem „Red Ocean“ gegenseitig zu bekämpfen, hat man neue „Blue Oceans“ gefunden. iPod, iPhone und iPad sind die besten Beispiele dafür. Vater des Erfolgs war immer Steve Jobs, eine weitere charismatische Führungspersönlichkeit, die wie Andy Grove des Öfteren aneckte. Als sich Apple von ihm trennte, ging es dort nicht wirklich vorwärts und dann sogar bergab. Als er zurückkam, machte er Apple zu dem, was es heute ist. Sein „There is one more thing…“ ist für mich noch heute Symbol für das Einläuten eines neuen strategischen Wendepunkts bei Apple und nicht selten für die ganze Industrie. Ich persönlich denke, dass Apple wieder kurz vor einem strategischen Wendepunkt steht. Leider kann man Steve Jobs dieses Mal nicht wieder ins Unternehmen zurückholen und es wird interessant sein zu sehen, wie es dort weitergeht.
Organisatorische Veränderungen aktiv gestalten
Mit einer neuen Idee, einem neuen Produkt oder der Erschließung eines neuen Marktes allein ist es allerdings nicht getan. Fast immer gehen mit der Änderung der Geschäftsstrategie auch tiefgreifende Änderung in der Organisation des Unternehmens einher. Dies ist bei Firmen wie Intel oder Apple kein so einschneidendes Ereignis mehr, da man solche Zyklen schon mehrfach hinter sich hat. Aber auch bei Unternehmen, die schon länger auf dem Markt sind, haben Veränderungen in der Strategie üblicherweise Veränderungen in der Organisation zur Folge, die dem ein oder anderen Mitarbeiter nicht mehr zusagen und ihn letztendlich veranlassen dem Unternehmen den Rücken zu kehren. Leider wird dies sehr oft nur negativ gesehen. Ich sehe das ganz anders. Jede Ära eines Unternehmens hat wie die einer Fußballmannschaft seine Protagonisten. Kommt eine neue Ära, braucht es neue Spieler. Joachim Löw wurde viel kritisiert, dass er verdiente Spieler wie Thomas Müller oder Mats Hummels nicht mehr im Aufgebot der Fußballnationalmannschaft haben wollte. Aber auch hier vollzieht sich ein Wandel. Viele der Weltmeister von 2014 waren schließlich auch diejenigen, die nur vier Jahre später so kläglich als Gruppenletzter in der Vorrunde gescheitert sind. Löw hat diesen strategischen Wendepunkt schließlich erkannt. Vielleicht ein wenig spät, aber noch nicht zu spät. Ich weiß, dass dieser Vergleich etwas hinkt, er beschreibt aber aus meiner Sicht ganz gut, was das Problem in Unternehmen ist, die sich ebenfalls neu aufstellen müssen. In diesen Situationen brauchen die Unternehmen erfahrene Führungskräfte, die den Wandel begleiten und führen. Ziel muss es immer sein, den Großteil der Organisation mitzunehmen, aber vielleicht nicht alle. Und man muss auch offen sein, sich neue Expertise und neue Talente von außen zu holen.
Es gibt immer ein erstes Mal
Am schmerzhaftesten sind solche Prozesse immer für Unternehmen, die sich aus der Startup-Phase heraus rasant entwickelt haben. Man hat zufällig oder auch geplant ein Produkt auf den Markt gebracht, das einschlägt wie die sprichwörtliche Bombe. Wachstumsraten von 50% und mehr jedes Jahr fokussieren das Management fast ausschließlich darauf, dieses Wachstum zu verwalten. Das heißt man rennt eigentlich immer hinterher, um die steigende Nachfrage zu bedienen. Das lässt üblicherweise wenig bis gar keine Zeit, sich über die Zukunft Gedanken zu machen. Warum auch? Es läuft doch alles fantastisch. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem man plötzlich bemerkt, dass jedes Wachstum irgendwann einmal abflacht und letztendlich zum Stillstand kommt. Je früher man diesen Trend erkennt, umso mehr Zeit hat man, den notwendigen Wandel anzugehen und zu planen. Je länger man damit wartet, umso schmerzhafter wird es oder im schlechtesten Fall sogar unmöglich. Plötzlich bemerkt man, dass der eigene Erfolg auch die Konkurrenz auf den Plan gerufen hat, die ein Stück vom Kuchen abhaben will und vielleicht gerade dabei ist, auf der Überholspur vorbeizuziehen, da sie schon eine bessere Lösung für das von Ihnen erkannte Problem anbieten kann. Weiterentwicklungen hatte man erst einmal hinten angestellt, da man ja mehr als beschäftigt war, die Kunden mit dem zu bedienen, was sich so gut verkauft. Auch vergisst man gerne, dass ein Markt nicht unendlich groß ist. Da sind erst einmal die niedrig hängenden Früchte, die man ohne viel Aufwand pflücken kann. Dann muss man sich aber immer mehr strecken, um auch die anderen weiter oben zu ernten. Das heißt der Aufwand wird sehr viel größer für den gleichen Ertrag. Oder umgekehrt, mit dem gleichen Aufwand bekommt man sehr viel weniger und über kurz oder lang auch irgendwann gar nichts mehr. Dann allerdings befindet man sich schon auf dem „Catastrophic Decline“.
Den Niedergang verhindern
Um es nicht soweit kommen zu lassen, muss man die Hebel frühzeitig umlegen. Kurzfristig kann man folgendes tun:
- Etablieren neuer Verkaufskanäle
- Entwicklung neuer Kundensegmente für das bestehende Produkt
- Erweiterung des bestehenden Produktes für neue Kundensegmente
- Eintritt in neue geographische Märkte
Aber auch all das kostet Geld und Kraft, man erreicht nicht wirklich das neue langfristige Wachstum und die Kurve sieht dann eher so aus:
Man schiebt das eigentliche Problem damit im Prinzip nur vor sich her und gewinnt Zeit. Was man braucht ist eine neue Idee, am besten noch einmal genau so eine wie die, die das Unternehmen bis jetzt so erfolgreich gemacht hat. Doch das ist typischerweise nicht ganz so einfach. Das bestehende Geschäft muss jetzt mit neuen Aktivitäten am Laufen gehalten werden, während man sich sozusagen im Hintergrund selbst neu erfindet.
Man braucht agile Organisationen
Das kostet alle Beteiligten einiges an Kraft und erzeugt viel Unruhe in der Organisation. Der veränderungsresistente Teil der Belegschaft meldet sich zu Wort und man hört die üblichen Aussagen, die Gift für jede Weiterentwicklung des Unternehmens sind:
- „Das haben wir doch noch nie so gemacht.“ – Der Klassiker!
- „Warum bin ich nicht in diese Entscheidung eingebunden worden?“
- „Wie soll denn das funktionieren?“
- „Warum hören wir auf die Ideen von Leuten, die hier gerade erst angefangen haben?“
- „Was soll uns das alles bringen?“
Die Antworten darauf sind eigentlich sehr einfach und könnten sich so anhören:
- „Genau deswegen wollen wir das jetzt genauso machen.“
- „Weil es nicht in Deinen momentanen Verantwortungsbereich fällt.“
- „Du kannst uns gerne dabei helfen, dass es funktioniert.“
- „Genau deswegen haben wir diese Leute eingestellt.“
- „Ich werde versuchen, es Dir zu erklären.“
Natürlich kann man den vermeintlich bequemeren Weg gehen, den strategischen Wendepunkt aussitzen und auf das berühmte Wunder hoffen. Allerdings hat die Geschichte gezeigt, dass das insbesondere in der IT-Industrie aber auch ganz allgemein nie wirklich zum Erfolg führt. Ganz im Gegenteil wird der Weg dann noch viel steiniger und führt nicht selten am Ende in den Abgrund.
Die meisten werden mir zustimmen, dass das Arbeiten an etwas Neuem viel aufregender und motivierender ist als auf ein Wunder zu hoffen oder gar dem Schiff beim langsamen Untergang zuzuschauen. Letzteres sollte sowieso niemand aus der Mannschaft wollen, ansonsten ist er oder sie definitiv auf dem falschen Dampfer und sollte schleunigst woanders anheuern.
Unternehmensorganisationen müssen heute proaktiv und flexibel sein, sie müssen „agil“ handeln, um das Schlagwort der letzten Jahre zu nutzen. Mehr dazu in meinem Blog „Das agile Arbeitsumfeld“.